Rom I – Am Anfang war

das Wort
ist ein geklauter Anfang
aber er passt gut nach Rom
in ein Gedicht über den Diebstahl
das sonst nicht mehr zu sagen hat

Abgeschaut: Jakob vAn HoDDIS (1887-1942) – »AURORA«

Nach Hause stiefeln wir verstört und alt,
Die grelle, gelbe Nacht hat abgeblüht.
Wir sehn, wie über den Laternen, kalt
Und dunkelblau, der Himmel droht und glüht.

Nun winden sich die langen Straßen, schwer
Und fleckig, bald, im breiten Glanz der Tage.
Die kräftige Aurore bringt ihn her,
Mit dicken, rotgefrorenen Fingern, zage.


| aus: Niedermeyer, Max (Hg.): Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts. Dtv 1970.

| Digitalisat unter: Projekt Gutenberg


Rückständig

Die Nacht verlässt den Kopf
Durch die Augen versenkt du sie
In den Tiefen der Tasse
Die mehrhäutigen Worte
Ziehen sich zurück
Sammeln in der Amygdala
Den nächsten Sturm
Dir wird kein Haar gekrümmt
Nur ganz sachte das Rückgrat gestaucht

Frohlocken

Dieses Wort zog dir bis an die Haarwurzel

und zwang dich an den Stift

es gehört in die Poesie dachtest du

und nebenan klopften schon die anderen Ideen

kamen aber nicht dran

der Rand war schon erreicht

und die Augen zu träge

konnten nicht mehr folgen

die Ideen gerieten unter die Verse

Short VIII – Schlaf

Auf der Decke liegend

Bedeckt von Hitze

Rufe ich den Herbst aus

Mit Kühle für den Schlaf

Der Ausgerufene schaut wirr

Und dreht sich im Bett

Ich bekomme von Südsüdwest

Ein Tropenhoch zur Antwort

Wurf

Ich warf dem Raben Krumen hin

an der Haltestelle gegenüber säubert ein Punk seine Stiefel

der Hahnenkamm wirkt wie ein Besen

für den Reklamestrand der Tui darüber

die Strandschöne schaut dazu vergnügt

der Punk mustert seine Fingernägel

ist zufrieden mit den Rändern

hebt die Arme und tritt in die Welt

der Rabe sieht ihn und verneigt sich

Reise

Eingeschlafen Linie 4
Am Kreuzchen, Volkenrodaer Weg
große Welt kommt gleich
Airport
verpasst den Ausstieg
zum Trost ist das Bistro geöffnet
heute gibt es Burger vom Grill

Bote

uns liefen die heißeren Katzen hinterher
du auf der einen, ich auf der anderen Seite
uns beiden ein Licht gemein
unsere Schatten kannten sich nicht

die Spinnen brachten uns ihre Fäden
der Wind brachte Sand und Salz
wir brachten uns Worte und eine Richtung
sammelten Asphalt mit den Sohlen

ich gab einer Taube ein Gedicht für dich mit
danach blieben deine Schritte ungehört

ABGESCHAUT: Paul Verlaine (1844-1896) – »Sommer«

Der Sommer dehnt sich durch des Himmels weiße Glut,

ein Schattenkönig, der ein Urteil sieht vollstrecken.

Despotisch siehst du ihn die fahlen Arme recken,

der müde Landmann schläft und jede Arbeit ruht.

Die Lerche sang heute nicht, sie blieb bei ihrer Brut.

Nicht eine Wolke will ein wenig Blau verdecken,

und nicht ein Windhauch will ein leises Säuseln wecken.

Die Stille lastet schwer auf Wiese, Hain und Flut.

In dieser starren Ruh verstummen selbst die Grillen,

die Bäche fließen nur in schmalen, seichten Rillen,

ihr Kieselbett ist leer, und gelb das Ufermoos.

Im grünen Tümpel nur im Schatten jener Espen,

da schwirren glitzernd noch Libellen ruhelos,

und manchmal blitzen durch die Luft schwarzgelbe Wespen.


| aus: Zweig, Stefan (Hg.): Paul Verlaine. Gedichte. Eine Anthologie der besten Übertragungen. Berlin 1907. Übers. von Otto Hauser.

| Digitalisat unter: Projekt Gutenberg

Auf der Bank

im auge des erpels
siehst du die bank
siehst dich
im auge des erpels
er sitzt gelassen
denkt sich seinen teil
und du entdeckst dich
im auge des erpels
bist du schön
er scheint zufrieden
und du bist es auch

Notat – Bryan

Die Vier erklimmt den Hügel Richtung Flughafen. Durch die Bahn schallt lautes Kinderlachen.
Ein kleiner Junge wird von seiner Mama angepustet und quittiert dies ausgelassen.
Der Vater reagiert zunehmend genervt. „Bryan bitte! Bryan hör auf.“ Hilflos schaut er sich
in der Tram um. „Bryan aufhören!“.
Ein Mädel in Bryans Alter setzt eine fragende Miene auf und zupft an der Jacke ihrer Mutter.
„Bryan? Mama…Bryan?“. „So heißt der Junge“ antwortet die Gefragte. „Nein Mama. So heißt man
doch nicht.“ Die Mutter muss das Lachen unterdrücken. „Bryan gibt es immer bei Oma zu Mittag.“
Durch die Bahn schallt lautes Mutterlachen.

Zugvereist

sehr langsam rollt voran
der Zug mit mir
und meinen Gedanken
dem Wunsch einmal im Rathaus
allein in der Nacht
die Gänge zu zählen
von Amts wegen und statistisch
verliert sich mein Blick
an einem Baum
an dem wir gerade schon vorbeikamen

Pix – Streetart in Erfurt – Die Brücke, Frau Korte 2023

Ich habe mir mal wieder die Umgebung des Nordbahnhofs in Erfurt angeschaut.

An alle Artists: Für Verlinkung oder Bitte um Löschung bitte kurz melden.


| Frau Korte.

| Wall of Fame Erfurt

| Streetart @ Feels like Erfurt

Kurzgelesen – Dmitrij Kapitelman: »Eine Formalie in Kiew«

Wie schreibt man nach der Besetzung des Donbass und der Krim durch Russland 2014 und vor dem Angriffskrieg 2022 über die Ukraine und im Speziellen über Kiew?

Eine Möglichkeit bietet Serhij Zhadan (*1975), der in »Internat« einen jungen Lehrer ausschickt seinen Neffen aus der titelgebenden Bildungseinrichtung abzuholen. Dabei trotzt dieser den allgegenwärtigen Gefahren des Kriegsalltags in einem verrohten Land.

Eine ganz andere Option wählt Dmitrij Kapitelman (*1983) in »Eine Formalie in Kiew«. Doch was im ersten Moment so locker daher kommt, zeigt ein Land mit großen Fragen auf der Suche nach der eigenen Position zwischen Tradition und Neuaufbruch.

Der autobiographisch grundierte Roman schickt Dima nach Kiew um dort Dokumente für den Abschluss seiner Einbürgerung in Deutschland abzuholen. Wie sein Geburtsland steckt auch unser Protagonist plötzlich in einer Findungsphase, da er nicht weiß wie er sich in dieser ihm fremd gewordenen Ukraine bewegen soll. Und jetzt beginnt eine Achterbahnfahrt. Eben noch der König der Stadt, zerfällt alles mit einem Anruf. Dima wird auf eine Art und Weise herausgefordert, die viele Gewissheiten umwirft.

Dmitrij Kapitelman nimmt uns mit auf die spannende Reise einer Familie, die an Problemen wächst und doch immer in ihrer ganz eigenen Dynamik weiterfunktioniert. Die rasante Erzählung lebt von genauen Beobachtungen, Wortschöpfungen und einer feinen Ironie, die selten abgegriffen wirkt. Natürlich werden die Stereotypen gegeneinander ausgespielt, dank der ständigen Unsicherheit aber auch gekonnt aufgehoben, wenn man es gerade nicht erwartet.

Schaudort vergibt 10/10 Blickpunkte.

| Kapitelman, Dmitrij: Eine Formalie in Kiew. Dtv 2023. Roman, 176 Seiten.

Short VIII – Sonntag

Das harte Leben

gemimt von der Tischplatte

wer am längeren Daumen sitzt

dem winkt kein Vergessen

vor lauter Welkerei

bleiben die Gedanken

auf der Strecke ins Gedicht

kamen sie vom Weg ab

Pix – Leipzig/Plagwitz Baumwollspinnerei, Parkfriedhof

ABGESCHAUT: WILHELM HEINRICH WACKENRODER (1773-1798) – »Sehnsucht nach Italien«

Durch einen seltsamen Zufall hat sich folgendes kleine Blatt bis jetzt bei mir aufbewahrt, das ich schon in meiner frühen Jugend niederschrieb, als ich vor dem Wunsche, endlich einmal Italien, das gelobte Land der Kunst, zu sehen, keine Ruhe finden konnte.

Bei Tage und in der Nacht denkt meine Seele nur an die schönen, hellen Gegenden, die mir in allen Träumen erscheinen, und mich rufen. Wird mein Wunsch, meine Sehnsucht immer vergebens sein? So mancher reist hin und kommt zurück, und weiß dann nicht, wo er gewesen ist, und was er gesehen hat, denn keiner liebt so innig das Land mit seiner einheimischen Kunst.

Warum liegt es so fern von mir, daß es mein Fuß nicht in einigen Tagereisen erreichen kann? Daß ich dann vor den unsterblichen Werken der großen Künstler niederknie und ihnen alle meine Bewunderung und Liebe bekenne? Daß ihre Geister es hören, und mich als den getreusten Schüler bewillkommen? –

Wenn zufällig von meinen Freunden die Landkarte aufgeschlagen wird, muß ich sie immer mit Rührung betrachten; ich durchwandre mit meinem Geiste Städte, Flecken und Dörfer, – ach! und fühle nur zu bald, daß alles nur Einbildung sei.

Wünsch ich mir doch kein glänzendes Glück dieser Erde; aber soll es mir auch nicht einmal vergönnt sein, dir, o heilige Kunst, ganz zu leben?

Soll ich in mir selbst verschmachten

Und in Liebe ganz vergehn?

Wird das Schicksal mein nicht achten,

Dieses Sinnen, dieses Trachten

Stets mit Mißvergnügen sehn?

Bin ich denn so ganz verloren,

Den Verstoßnen zugeweiht?

O beglückt, wer auserkoren,

Für die Künste nur geboren,

Ihnen Herz und Leben weiht!

Ach, mein Glück liegt wohl noch ferne,

Kommt noch lange mir nicht nah!

Freilich zweifelt‘ ich so gerne, –

Doch noch oft drehn sich die Sterne, –

Endlich, endlich ist es da!

Dann ohne Säumen,

Nach langen Träumen,

Nach tiefer Ruh,

Durch Wies‘ und Wälder,

Durch blühnde Felder

Der Heimat zu!

Mir dann entgegen

Fliegen mit Segen

Genien, bekränzt,

Strahlenumglänzt!

Sie führen den Müden

Dem süßen Frieden,

Den Freuden, der Ruh,

Der Kunstheimat zu!

| aus: Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Werke und Briefe. Hanser, 1984. S. 14ff.

| Digitalisat unter: http://www.zeno.org/Literatur/M/Wackenroder,+Wilhelm+Heinrich/Schriften+und+Dichtungen/Herzensergie%C3%9Fungen+eines+kunstliebenden+Klosterbruders/Sehnsucht+nach+Italien

Wiesenstories

erzählt von den Halmen
ein kurzer Weg der Augen
über gramselnden Geschehen

erzählt über den Halmen
von dir und mir
beim Verlassen des Tages

erzählt in den Halmen
von den Beinen der Schrecke
der wir liegend lauschen

erzählt für uns
die wir zu Halmen werden
wiegend im Wind

Caprice

immer wenn du von der Tinte verfolgt
mit den Blättern vom Baum
und dann durch die Pfützen fielst
immer tiefer bis zum Magmakern

wenn du in Luftschiffen
auf Polarexpeditionen gingst
um mit den Eisbären zu sprechen
über Finnwale und andere Freunde

wenn du Shibuya entdecken gingst
unbemerkt mit der Menge
aus dem Rahmen liefst
wie im japanischen Holzschnitt

immer dann machten wir
aus dem Schweigen eine Burg
zogen uns in das sachte Kratzen zurück
und genossen wie sich die Worte sammelten

Warum eigentlich nicht?

Warum sollten wir nicht am Leipziger Platz

die Weltwunder suchen

Augen geworfen nach Links, nach Rechts

und jede Ampelpause macht friedlich


Warum sollten wir nicht an der Werra

laufen bis zum Wehr

mit den singenden, springenden Fischen flussabwärts

die Schwanzflossen glänzend im Licht


Warum sollten wir nicht die Sonne

auf wie Wilhelmsburg tragen

über der Stadt die Freude verschütten

Burggräben füllen mit Glück


Warum sollten wir nicht mit Sisyhpos

den Stein auf den Inselberg rollen

bis er klein und bleich im Schnee liegt

und wir rodeln dem Glühwein entgegen


Warum eigentlich nicht?

Abgeschaut: Kurt Tucholsky (1890-1935) – »Ersterbendes Gemurmel«

Allherbstlich,
wenn die braunen Blätter fallen,
fällt auch dem Dichter dies und jenes ein.
Er sieht, wie Wolken sich zusammenballen,
er hört der Völker wilde Streiterein …
Der deutsche Dichter kratzt sich an den Waden
und fängt sich still den letzten Sommerfloh;
und denkt: du könntst dich auch mal wieder baden
und überhaupt und so …

Ich bin ein Preuße. Pfui auf die Verneinung!
Ich lob die positive Position.
Und ich besitz das Recht der freien Meinung
in Wort und Bild und auch im Grammophon.
Ich sage, was ich will, und sag es feste,
am Stammtisch sag ichs und im Wahlbüro.
Stolz sag ichs und mit einer weiten Geste:
» … und überhaupt und so …«

Ich wohnte schon in vielen, vielen Zimmern,
am Meer, in Bukarest, in Großenhain;
und immer hört ich eine Jöhre wimmern,
ein Schreihals muß in jeder Straße sein.
Dann mach ich mir so allerhand Gedanken,
zum Beispiel über unsern Reventlow –
Die kleinen Kinder haut man auf den blanken
und überhaupt und so …

| aus: Tucholsky, Kurt: Gesammelte Werke. Bd. 1 1907 -1918, Rowohlt, 1993. S. 565. – zuerst in: Die Weltbühne, 26.09.2018, Nr. 39, S. 297. (Als Theobald Tiger)

Abgeschaut: Konstantinos Kavafis (1863-1933) – Wenn es sich aufreckt

Versuch, Poet, dies Etwas festzuhalten,

Ganz gleich, ob es dann nur der Abglanz ist:

Der Sinnlichkeit verschiedene Gesichter,

Laß sie versteckt aus Deinen Sätzen blicken –

Versuch´s, Poet: Setz sie in Deinen Sätzen fest,

Wenn es sich aufreckt hinter Deiner Stirne

Nachts oder in des Mittags grellem Licht.


| Kavafis, Konstantinos: Gedichte. Insel, 1979. S. 35.

Der Tag wird schon kommen.

Geboren sein, um vom eigenen Tod zu leben!

César Vallejo – Wenn man bedenkt

Stehe Tinte schwitzend

Greife in deine Augen

Ziehe das Herz aus deinem Leib

Packe dir dafür den Schmerz hinein

Halte durch!

Vielleicht erleichtert dich ein Lachen

Wenn ich stolpere beim Gehen.

Gleiten

Tram oberhalb des Staubs
klettere auf einen Halm
hier greift dich der Wind
erhebend die Luft unter den Flügeln
treibe bis zum Steig

hier standen die Menschen
schwer vom Denken
bis ihre Kalender vorbei waren
das Licht machte den Letzten aus

uns weist es den Weg

Wilde Zeiten

unter dem kreisenden Milan
tritt er in die Sonne
die Augen beschirmt
in seinem Vorgarten die Äpfel
daran vorbei tritt er zur Garage
und da hochglanzpoliert steht sie und wartet
fahren darf er nicht mehr
er schiebt seine Suhler Queen vor das Tor
da kneift es im Rücken

er zuckt zusammen
legt die Hand an den Lenker
sofortige Straffung in allen Zellen
Gänsehaut, Schwalbenhaut wie er es nennt
und der Schwung der Beine
schon sitzt er
die Schmerzen im Rücken als Sozius
nur den Helm lässt er weg
wie er so unter der Sonne steht
summt er schmissige Lieder

Sonntagmorgen bei Regen

Liegen und Worte zählen die man noch sagen kann
beim Vorschlag Matratze schon stutzt du
das könnte doch zur Krisenkommunikation genutzt werden
so eine Matratze ist ein Refugium, unter ihr versteckt man
auf ihr liegt man und tut Dinge, die ich auch tun wollte
aber wir zählen weiter. Den Vorschlag Montag lehnst du auch ab.
Montag ist Krise in einem Wort. Montag ist wie ein Diktator der Woche.
Keiner will ihn und alle gehorchen. Beim Vorschlag Wiese schüttelst du den Kopf.
Wiesen sind keine gute Idee. Wie auf der Matratze kann man hier liegen und Dinge tun, die ich auch tun möchte.
Aber jetzt wo die Wiesen alle dürr sind, legt man sich nicht freiwillig. Ich sage Strand. Du sagst Wohlstandssignal.
Ich sage Kaffeetasse. Du sagst Anbaumethoden und Plantagenwirtschaft. Ich sage Kuss, da sagst du Übergriffigkeit.
Ich sage du. Da denkst du kurz nach. Schüttelst den Kopf. Dein Blick der zu einem trotzigen Kind.
Du heiße immer von sich weisen. Du heiße vom Ich ablenken.
Jetzt ist die Liste immer noch leer und ich lasse dich allein.

Short VII – Sturz

Jetzt sind sie alle übereinandergestürzt

Vertrieben durch den Marmorkopf vom Alten Fritz

Segeln die Bände und blättern sich zusammen

Da landet der Ermittler aus Berlin in Istanbul und wird aus Venedig gegrüßt

Hier geht es ja zu wie bei der ARD denke ich und sortiere meine Mediathek neu.

Pix – Streetart zur »Tapefabrik 2022«, Wiesbaden

Die Area um den Schlachthof in Wiesbaden ist ein Hot-Spot der Jugendkultur in der Landeshauptstadt. Aber auch Kreativwirtschaft und Medienunternehmen sind hier in direkter Nachbarschaft. Hervorzuheben ist dabei das Murnau-Filmtheater. Betrieben von der Murnaustiftung wird hier ein schicker Mix an internationalen Independentfilmen gezeigt

Der Schlachthof selber ist seit 1994 ein Kulturzentrum. Die Location mit mehreren Floors war Bühne für die »Tapefabrik 2022«. Die zehnte Ausgabe der Jam sollte schon 2020 stattfinden, was aus bekannten Gründen nun nachgeholt werden musste. Und hell yeah – das hat sich mal so richtig gelohnt.

Auf der Bühne Old Skool Acts wie Cora E und die Stieber Twins, Hypeacts wie OG Keemo oder fresher Boom Bap Ship von Die P oder Presslufthanna.
Und zu einer richtigen Jam gehört auch Graffiti Art. An und um den Schlachthof gab es frische Walls und den Geruch von Lack. Ein Paar der besten Pieces habe ich hier mal zusammengestellt.

* Wenn ein Writer hier eines seiner Werke sieht und gerne eine Verlinkung möchte oder das die Pics nicht hierher gehören, schreibt einfach kurz hier.

** Nicht alle Pieces sind dieses Jahr entstanden.

| Schlachthof Wiesbaden.

| Tapefabrik.

Wir Sitzen im Bach

Wenn am Abend die Biber schlafen
gegen die Strömung träumen sie an
und dann wird gebaut
sie schaufeln und wir
machen es uns gemütlich
ist ihr Bau und wächst
uns ins Herz schaufeln sie
gegen die Strömung träumen wir an
den Abenden sitzen wir gemeinsam

Short V – Bachstraße

In der Bachstraße stehen wir

Und fangen den Wind mit unseren Träumen

Zwischen den Waggons der Bahn westwärts

Liegen und den Schotter ertragen

Und den Blick an die Bäume heften

Ob sie nun da sind oder Nicht

Über uns werden die Fenster verfunkelt.

Kurzgelesen – Daniela Danz: »Lange Fluchten«

Cons hatte einen Lebensentwurf. Alles war geplant. Frau, 2 Kinder, Hausbau – Alles ist da. Die Bundeswehr ist seine Berufung, bis er als Zeitsoldat bei einer Übung einen Aussetzer hat. Für einen Einsatz im Kosovo wird er nicht berücksichtigt und von nun an ändert sich alles.

Die Familie lebt auf der (ehemaligen) Baustelle in provisorischen Containern. Während seine Frau den Alltag der Familie bewältigt und die Söhne an ihm vorbei leben, geht Cons seiner Jagdleidenschaft nach. Kaum fähig einen konkreten Gedanken zu fassen lebt er in den Tag.

Daniela Danz nimmt den Leser mit auf eine Reise in das Innere eines Menschen, welches trostloser kaum sein kann. Zwischen Erinnerungen, alten Freundschaften und einem nicht mehr greifbaren Ideal scheitert Cons an sich selber.

Stilistisch holt die 1976 in Eisenach geborene Lyrikerin immer wieder das feine Besteck heraus. Die »Lange[n] Fluchten« sind ein kompaktes, rauschhaftes Werk, lassen den Leser etwas ratlos zurück und erzählen auf den wenigen Seiten so viel mehr über unsere Gegenwart als so manches Opus Magnum.

Schaudort vergibt 9/10 Blickpunkte.

| Danz, Daniela: Lange Fluchten. Wallstein 2016. Roman, 146 Seiten.

Short VI – Arana

Noch eben im Netz

Und nähert sich

Dieses kleine Wunder

Setzt sich ab

In deiner Asche

Dreht es eine kurze Runde

Und ich stelle mir vor

Wie sie deinen Namen übt

Um ihn zu weben

Immer und Immer

Dein Name Legende des Spinnenvolkes

Short IV – Sonne

Erst durch Haar und Talg und Epidermis

Ist alles HORN irgendwie

Über den Gedanken

Zerren sie dir an der SCHWARTE herum

Und du so ein wenig Nervenzappeln

wenn sie dir Rupfen um Rupfen nehmen

mit Unterhaut und Sehnenhaube

löst du dich ab, löst du dich auf

es hilft auch kein Leibchen aus Speichelfäden

wenn der ABRISS in der Sonne glänzt

ohne Stirn, ohne Idee

Short Iii – Ufer

beobachtest den Streit der Spatzen

um ein ausgehöhltes Brötchen

trocken wie das Gras um dich herum

Es ist Juni, Sommer an der Spree

und hinter einem Baum wird ein Handy gefunden

verloren geglaubt, zitternd bereits die Follower

vor dem unwiederbringlichen Verlust

die Bürogebäude zerlaufen im Wasser

zu Mondrianschen Flächenspielen

Darüber touristisches Winken

und das grüßende Bier vom Ausflugsdampfer

Jeder der Spatzen trägt nun seinen Happen

und verlässt deine Szene

alles das wird untermalt vom Ruf des Blässhuhns

Du stimmst mit ein, erschreckte Follower fallen vom Baum

Nachtlos

Wir wollten unzählbar sein

Nur spürbar als Luft in den Lungen

Durch die Dunkelheit von Laterne zu Laterne ziehen

Halte ein, sagst du

Nachtlos sammeln wir

Unsere gegenseitigen Schwüre in die Tränensäcke

SHORT II – Dienstbar

Du sitzt und beobachtet das Ausschwärmen

Der Postfahrzeuge aus ihrem Hive

Von der Königin entsendet

Tragen sie gelb gefärbt ihre frohe Boschaft zu dir

Bestäuben dein Postfach mit Rechnungen

Das sind die Stiche die tiefer gehen

Und alles Fuchteln mit den Armen bleibt sinnlos

Jenseits des Standstreifens

ich kehre die Autobahn
Feudeln gegen Feinstaub
Du sagst
Ich solle Wolken züchten
Wolken auf die Leitplanken wickeln
mit ihren Tropfen die Fahrbahn säubern

wir legen uns auf den Mittelstreifen
sammeln die Sonne ein
zählen Marienkäferbeine auf dem Asphalt
Du sagst
Drei Kirschkerne in einem Schatten
geben noch keinen Arcimboldo

ziehen die Fahrbahnen auseinander
verbinden damit unsere Augen
heben die Arme
Du sagst
jetzt können wir Träumen
jetzt können wir Fliegen

wir fließen dahin
wir reißen die Brücken ein
die Augenbinden zerfleddern
das Licht kehrt wieder
wir sind grenzenlos wie keiner

Tamara Danz Straße

die beiden Bs ihres Lebens
Breitungen und Berlin
hier Kindheit, dort Kunst
heute verbauen sie hier die Seele
die neue Mall, die neuen Häuser
und alles trägt ihren Namen
als Farbfleck auf dem Waschbeton
und unter dem Asphalt liegen die Toten
und Sand ins Auge wehts
von der Werra von der Spree
vom Schloss her, von der Mauer
und vielleicht an roter Ampel
summt ein Bauender »Schlohweißer Tag«

| Der Text wurde zuerst auf der Seite Literaturland Thüringen veröffentlicht.

Ostersonntag

lass uns doch spazieren gehen

vorüber an den Parkflächen

entlang an den Krankenkassen

Büroparks, Spätis, Thai-Masseuren

immer voran zur alten Mälzerei

über den Feldweg von damals

erinnerst du dich

zum Güterbahnhof geht er heute

da raus, wo keiner hin will

lass uns doch ziehen

zur Badausstellung mit den staubigen Fließen

da gibt es auch heute noch Tiere

da gehen wir hin

vielleicht finden wir den einen Waschbären am Bach

der kann uns mit der Flasche winken

die da einer hinterließ zum Gruße

lass uns doch stromern gehn

zu den bunten Tüten wehend im Wind

Abgeschaut: Friedrich Hebbel (1813-1863) – »Requiem«

Seele, vergiß sie nicht,

Seele, vergiß nicht die Todten!

Sieh, sie umschweben dich,

Schauernd, verlassen,

Und in den heiligen Gluten,

Die den Armen die Liebe schürt,

Athmen sie auf und erwarmen,

Und genießen zum letzten Mal

Ihr verglimmendes Leben.

Seele, vergiß sie nicht,

Seele, vergiß nicht die Todten!

Sieh, sie umschweben dich,

Schauernd, verlassen,

Und wenn du dich erkaltend

Ihnen verschließest, erstarren sie

Bis hinein in das Tiefste.

Dann ergreift sie der Sturm der Nacht,

Dem sie, zusammengekrampft in sich,

Trotzten im Schooße der Liebe,

Und er jagt sie mit Ungestüm

Durch die unendliche Wüste hin,

Wo nicht Leben mehr ist, nur Kampf

Losgelassener Kräfte

Um erneuertes Sein!

Seele, vergiß sie nicht,

Seele, vergiß nicht die Todten!


| aus: Hebbel, Friedrich: Sämtliche Werke. 1. Abteilung. Berlin 1911. S. 149-150.

| Digitalisat unter: Zeno


Dieses Requiem hat Max Reger (1873-1916) als sein letztes Chorwerk 1915 (Reqiuem op. 144b) für Alt und Bariton vertont.