Die Vier erklimmt den Hügel Richtung Flughafen. Durch die Bahn schallt lautes Kinderlachen.
Ein kleiner Junge wird von seiner Mama angepustet und quittiert dies ausgelassen.
Der Vater reagiert zunehmend genervt. „Bryan bitte! Bryan hör auf.“ Hilflos schaut er sich
in der Tram um. „Bryan aufhören!“.
Ein Mädel in Bryans Alter setzt eine fragende Miene auf und zupft an der Jacke ihrer Mutter.
„Bryan? Mama…Bryan?“. „So heißt der Junge“ antwortet die Gefragte. „Nein Mama. So heißt man
doch nicht.“ Die Mutter muss das Lachen unterdrücken. „Bryan gibt es immer bei Oma zu Mittag.“
Durch die Bahn schallt lautes Mutterlachen.
Autor: tarianus
Zugvereist
sehr langsam rollt voran
der Zug mit mir
und meinen Gedanken
dem Wunsch einmal im Rathaus
allein in der Nacht
die Gänge zu zählen
von Amts wegen und statistisch
verliert sich mein Blick
an einem Baum
an dem wir gerade schon vorbeikamen
Pix – Streetart in Erfurt – Die Brücke, Frau Korte 2023
Kurzgelesen – Dmitrij Kapitelman: »Eine Formalie in Kiew«
Wie schreibt man nach der Besetzung des Donbass und der Krim durch Russland 2014 und vor dem Angriffskrieg 2022 über die Ukraine und im Speziellen über Kiew?
Eine Möglichkeit bietet Serhij Zhadan (*1975), der in »Internat« einen jungen Lehrer ausschickt seinen Neffen aus der titelgebenden Bildungseinrichtung abzuholen. Dabei trotzt dieser den allgegenwärtigen Gefahren des Kriegsalltags in einem verrohten Land.
Eine ganz andere Option wählt Dmitrij Kapitelman (*1983) in »Eine Formalie in Kiew«. Doch was im ersten Moment so locker daher kommt, zeigt ein Land mit großen Fragen auf der Suche nach der eigenen Position zwischen Tradition und Neuaufbruch.
Der autobiographisch grundierte Roman schickt Dima nach Kiew um dort Dokumente für den Abschluss seiner Einbürgerung in Deutschland abzuholen. Wie sein Geburtsland steckt auch unser Protagonist plötzlich in einer Findungsphase, da er nicht weiß wie er sich in dieser ihm fremd gewordenen Ukraine bewegen soll. Und jetzt beginnt eine Achterbahnfahrt. Eben noch der König der Stadt, zerfällt alles mit einem Anruf. Dima wird auf eine Art und Weise herausgefordert, die viele Gewissheiten umwirft.
Dmitrij Kapitelman nimmt uns mit auf die spannende Reise einer Familie, die an Problemen wächst und doch immer in ihrer ganz eigenen Dynamik weiterfunktioniert. Die rasante Erzählung lebt von genauen Beobachtungen, Wortschöpfungen und einer feinen Ironie, die selten abgegriffen wirkt. Natürlich werden die Stereotypen gegeneinander ausgespielt, dank der ständigen Unsicherheit aber auch gekonnt aufgehoben, wenn man es gerade nicht erwartet.
Schaudort vergibt 10/10 Blickpunkte.
| Kapitelman, Dmitrij: Eine Formalie in Kiew. Dtv 2023. Roman, 176 Seiten.
Short VIII – Sonntag
Das harte Leben
gemimt von der Tischplatte
wer am längeren Daumen sitzt
dem winkt kein Vergessen
vor lauter Welkerei
bleiben die Gedanken
auf der Strecke ins Gedicht
kamen sie vom Weg ab
Pix – Leipzig/Plagwitz Baumwollspinnerei, Parkfriedhof
ABGESCHAUT: WILHELM HEINRICH WACKENRODER (1773-1798) – »Sehnsucht nach Italien«
Durch einen seltsamen Zufall hat sich folgendes kleine Blatt bis jetzt bei mir aufbewahrt, das ich schon in meiner frühen Jugend niederschrieb, als ich vor dem Wunsche, endlich einmal Italien, das gelobte Land der Kunst, zu sehen, keine Ruhe finden konnte.
Bei Tage und in der Nacht denkt meine Seele nur an die schönen, hellen Gegenden, die mir in allen Träumen erscheinen, und mich rufen. Wird mein Wunsch, meine Sehnsucht immer vergebens sein? So mancher reist hin und kommt zurück, und weiß dann nicht, wo er gewesen ist, und was er gesehen hat, denn keiner liebt so innig das Land mit seiner einheimischen Kunst.
Warum liegt es so fern von mir, daß es mein Fuß nicht in einigen Tagereisen erreichen kann? Daß ich dann vor den unsterblichen Werken der großen Künstler niederknie und ihnen alle meine Bewunderung und Liebe bekenne? Daß ihre Geister es hören, und mich als den getreusten Schüler bewillkommen? –
Wenn zufällig von meinen Freunden die Landkarte aufgeschlagen wird, muß ich sie immer mit Rührung betrachten; ich durchwandre mit meinem Geiste Städte, Flecken und Dörfer, – ach! und fühle nur zu bald, daß alles nur Einbildung sei.
Wünsch ich mir doch kein glänzendes Glück dieser Erde; aber soll es mir auch nicht einmal vergönnt sein, dir, o heilige Kunst, ganz zu leben?
Soll ich in mir selbst verschmachten
Und in Liebe ganz vergehn?
Wird das Schicksal mein nicht achten,
Dieses Sinnen, dieses Trachten
Stets mit Mißvergnügen sehn?
Bin ich denn so ganz verloren,
Den Verstoßnen zugeweiht?
O beglückt, wer auserkoren,
Für die Künste nur geboren,
Ihnen Herz und Leben weiht!
Ach, mein Glück liegt wohl noch ferne,
Kommt noch lange mir nicht nah!
Freilich zweifelt‘ ich so gerne, –
Doch noch oft drehn sich die Sterne, –
Endlich, endlich ist es da!
Dann ohne Säumen,
Nach langen Träumen,
Nach tiefer Ruh,
Durch Wies‘ und Wälder,
Durch blühnde Felder
Der Heimat zu!
Mir dann entgegen
Fliegen mit Segen
Genien, bekränzt,
Strahlenumglänzt!
Sie führen den Müden
Dem süßen Frieden,
Den Freuden, der Ruh,
Der Kunstheimat zu!
| aus: Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Werke und Briefe. Hanser, 1984. S. 14ff.
| Digitalisat unter: http://www.zeno.org/Literatur/M/Wackenroder,+Wilhelm+Heinrich/Schriften+und+Dichtungen/Herzensergie%C3%9Fungen+eines+kunstliebenden+Klosterbruders/Sehnsucht+nach+Italien
Wiesenstories
erzählt von den Halmen
ein kurzer Weg der Augen
über gramselnden Geschehen
erzählt über den Halmen
von dir und mir
beim Verlassen des Tages
erzählt in den Halmen
von den Beinen der Schrecke
der wir liegend lauschen
erzählt für uns
die wir zu Halmen werden
wiegend im Wind
Caprice
immer wenn du von der Tinte verfolgt
mit den Blättern vom Baum
und dann durch die Pfützen fielst
immer tiefer bis zum Magmakern
wenn du in Luftschiffen
auf Polarexpeditionen gingst
um mit den Eisbären zu sprechen
über Finnwale und andere Freunde
wenn du Shibuya entdecken gingst
unbemerkt mit der Menge
aus dem Rahmen liefst
wie im japanischen Holzschnitt
immer dann machten wir
aus dem Schweigen eine Burg
zogen uns in das sachte Kratzen zurück
und genossen wie sich die Worte sammelten
Warum eigentlich nicht?
Warum sollten wir nicht am Leipziger Platz
die Weltwunder suchen
Augen geworfen nach Links, nach Rechts
und jede Ampelpause macht friedlich
Warum sollten wir nicht an der Werra
laufen bis zum Wehr
mit den singenden, springenden Fischen flussabwärts
die Schwanzflossen glänzend im Licht
Warum sollten wir nicht die Sonne
auf wie Wilhelmsburg tragen
über der Stadt die Freude verschütten
Burggräben füllen mit Glück
Warum sollten wir nicht mit Sisyhpos
den Stein auf den Inselberg rollen
bis er klein und bleich im Schnee liegt
und wir rodeln dem Glühwein entgegen
Warum eigentlich nicht?