ABGESCHAUT: WILHELM HEINRICH WACKENRODER (1773-1798) – »Sehnsucht nach Italien«

Durch einen seltsamen Zufall hat sich folgendes kleine Blatt bis jetzt bei mir aufbewahrt, das ich schon in meiner frühen Jugend niederschrieb, als ich vor dem Wunsche, endlich einmal Italien, das gelobte Land der Kunst, zu sehen, keine Ruhe finden konnte.

Bei Tage und in der Nacht denkt meine Seele nur an die schönen, hellen Gegenden, die mir in allen Träumen erscheinen, und mich rufen. Wird mein Wunsch, meine Sehnsucht immer vergebens sein? So mancher reist hin und kommt zurück, und weiß dann nicht, wo er gewesen ist, und was er gesehen hat, denn keiner liebt so innig das Land mit seiner einheimischen Kunst.

Warum liegt es so fern von mir, daß es mein Fuß nicht in einigen Tagereisen erreichen kann? Daß ich dann vor den unsterblichen Werken der großen Künstler niederknie und ihnen alle meine Bewunderung und Liebe bekenne? Daß ihre Geister es hören, und mich als den getreusten Schüler bewillkommen? –

Wenn zufällig von meinen Freunden die Landkarte aufgeschlagen wird, muß ich sie immer mit Rührung betrachten; ich durchwandre mit meinem Geiste Städte, Flecken und Dörfer, – ach! und fühle nur zu bald, daß alles nur Einbildung sei.

Wünsch ich mir doch kein glänzendes Glück dieser Erde; aber soll es mir auch nicht einmal vergönnt sein, dir, o heilige Kunst, ganz zu leben?

Soll ich in mir selbst verschmachten

Und in Liebe ganz vergehn?

Wird das Schicksal mein nicht achten,

Dieses Sinnen, dieses Trachten

Stets mit Mißvergnügen sehn?

Bin ich denn so ganz verloren,

Den Verstoßnen zugeweiht?

O beglückt, wer auserkoren,

Für die Künste nur geboren,

Ihnen Herz und Leben weiht!

Ach, mein Glück liegt wohl noch ferne,

Kommt noch lange mir nicht nah!

Freilich zweifelt‘ ich so gerne, –

Doch noch oft drehn sich die Sterne, –

Endlich, endlich ist es da!

Dann ohne Säumen,

Nach langen Träumen,

Nach tiefer Ruh,

Durch Wies‘ und Wälder,

Durch blühnde Felder

Der Heimat zu!

Mir dann entgegen

Fliegen mit Segen

Genien, bekränzt,

Strahlenumglänzt!

Sie führen den Müden

Dem süßen Frieden,

Den Freuden, der Ruh,

Der Kunstheimat zu!

| aus: Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Werke und Briefe. Hanser, 1984. S. 14ff.

| Digitalisat unter: http://www.zeno.org/Literatur/M/Wackenroder,+Wilhelm+Heinrich/Schriften+und+Dichtungen/Herzensergie%C3%9Fungen+eines+kunstliebenden+Klosterbruders/Sehnsucht+nach+Italien

Abgeschaut: Kurt Tucholsky (1890-1935) – »Ersterbendes Gemurmel«

Allherbstlich,
wenn die braunen Blätter fallen,
fällt auch dem Dichter dies und jenes ein.
Er sieht, wie Wolken sich zusammenballen,
er hört der Völker wilde Streiterein …
Der deutsche Dichter kratzt sich an den Waden
und fängt sich still den letzten Sommerfloh;
und denkt: du könntst dich auch mal wieder baden
und überhaupt und so …

Ich bin ein Preuße. Pfui auf die Verneinung!
Ich lob die positive Position.
Und ich besitz das Recht der freien Meinung
in Wort und Bild und auch im Grammophon.
Ich sage, was ich will, und sag es feste,
am Stammtisch sag ichs und im Wahlbüro.
Stolz sag ichs und mit einer weiten Geste:
» … und überhaupt und so …«

Ich wohnte schon in vielen, vielen Zimmern,
am Meer, in Bukarest, in Großenhain;
und immer hört ich eine Jöhre wimmern,
ein Schreihals muß in jeder Straße sein.
Dann mach ich mir so allerhand Gedanken,
zum Beispiel über unsern Reventlow –
Die kleinen Kinder haut man auf den blanken
und überhaupt und so …

| aus: Tucholsky, Kurt: Gesammelte Werke. Bd. 1 1907 -1918, Rowohlt, 1993. S. 565. – zuerst in: Die Weltbühne, 26.09.2018, Nr. 39, S. 297. (Als Theobald Tiger)

Abgeschaut: Konstantinos Kavafis (1863-1933) – Wenn es sich aufreckt

Versuch, Poet, dies Etwas festzuhalten,

Ganz gleich, ob es dann nur der Abglanz ist:

Der Sinnlichkeit verschiedene Gesichter,

Laß sie versteckt aus Deinen Sätzen blicken –

Versuch´s, Poet: Setz sie in Deinen Sätzen fest,

Wenn es sich aufreckt hinter Deiner Stirne

Nachts oder in des Mittags grellem Licht.


| Kavafis, Konstantinos: Gedichte. Insel, 1979. S. 35.

Abgeschaut: Rainer Maria Rilke (1875-1926) – »Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort«

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus.
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist der Beginn und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um

Abgeschaut – Georg Trakl: »Grodek«

Am Abend tönen die herbstlichen Wälder

Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen

Und blauen Seen, darüber die Sonne

Düstrer hinrollt; umfängt die Nacht

Sterbende Krieger, die wilde Klage

Ihrer zerbrochenen Münder.

Doch stille sammelt im Weidengrund

Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt

Das vergoßne Blut sich, mondne Kühle;

Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.

Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen

Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain,

Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter;

Und leise tönen im Rohr die dunkeln Flöten des Herbstes.

O stolzere Trauer! ihr ehernen Altäre

Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz,

Die ungebornen Enkel.

| Zitiert nach: Trakl, Georg: Das dichterische Werk. München 1972. S. 94-95.

| Digitalisat auf Zeno.org

Abgeschaut – Ivo Andric – »Der Mensch kann leben«

Der Mensch kann leben, solange er die Kraft besitzt, sich Illusionen hinzugeben, um so die Unvollkommenheit der Welt und die Vergänglichkeit alles Bestehenden zu ertragen; wenn er diese verliert, taugt er nicht mehr fürs Leben, er erträgt es schwer, und es wäre besser für ihn, das Leben möglichst bald auf eine schöne Weise wegzuwerfen. Doch das tut er selten.

Ivo Andric: Wegzeichen. Hanser 1982. S. 15f.

Adventskalender Tür24* – Theodor Storm (1817-1888) – »Weihnachten«

Mir ist das Herz so froh erschrocken,
das ist die liebe Weihnachtszeit!
Ich höre fern her Kirchenglocken
mich lieblich heimatlich verlocken
in märchenstille Herrlichkeit.

Ein frommer Zauber hält mich wieder,
anbetend, staunend muß ich stehn;
es sinkt auf meine Augenlider
ein goldner Kindertraum hernieder,
ich fühl’s, ein Wunder ist geschehn.

Adventskalender Tür23* – Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) – »Bäume leuchtenD«


Bäume leuchtend, Bäume blendend,
Überall das Süße spendend.
In dem Glanze sich bewegend,
Alt und junges Herz erregend –
Solch ein Fest ist uns bescheret.
Mancher Gaben Schmuck verehret;
Staunend schaun wir auf und nieder,
Hin und Her und immer wieder.

Aber, Fürst, wenn dir’s begegnet
Und ein Abend so dich segnet,
Dass als Lichter, dass als Flammen
Von dir glänzten all zusammen
Alles, was du ausgerichtet,
Alle, die sich dir verpflichtet:
Mit erhöhten Geistesblicken
Fühltest herrliches Entzücken.

  • 24 weihnachtliche oder winterliche Gedichte von Autoren bis zum heiligen Abend. Morgen haben wir es geschafft.

Adventskalender Tür22* – Emanuel Geibel (1815-1884) – »Hoffnung«

Und dräut der Winter noch so sehr
Mit trotzigen Gebärden,
Und streut er Eis und Schnee umher,
Es muss doch Frühling werden.

Und drängen die Nebel noch so dicht
Sich vor den Blick der Sonne,
Sie wecket doch mit ihrem Licht
Einmal die Welt zur Wonne.

Blast nur ihr Stürme, blast mit Macht,
Mir soll darob nicht bangen,
Auf leisen Sohlen über Nacht
Kommt doch der Lenz gegangen.

Da wacht die Erde grünend auf,
Weiß nicht, wie ihr geschehen,
Und lacht in den sonnigen Himmel hinauf,
Und möchte vor Lust vergehen.

Sie flicht sich blühende Kränze ins Haar
Und schmückt sich mit Rosen und Ähren,
Und lässt die Brünnlein rieseln klar,
Als wären es Freudenzähren.

Drum still! Und wie es frieren mag,
O Herz, gib dich zufrieden;
Es ist ein großer Maientag
Der ganzen Welt beschieden.

Und wenn dir oft auch bangt und graut,
Als sei die Höll‘ auf Erden,
Nur unverzagt auf Gott vertraut!
Es muss doch Frühling werden.

  • 24 winterliche oder weihnachtliche Gedichte von 24 Autoren bis zum Heiligen Abend. Fast ist es geschafft. 😀

Adventskalender Tür21* – Alexander Sergejewitsch Puschkin (1799-1837) – »Erst gestern war es«

Erst gestern war es, denkst du daran?
Es ging der Tag zur Neige.
Ein böser Schneesturm da begann
und brach die dürren Zweige.
Der Sturmwind blies die Sterne weg,
die Lichter, die wir lieben.
Vom Monde gar war nur ein Fleck,
ein gelber Schein geblieben.
Und jetzt? So schau doch nur hinaus:
Die Welt ertrinkt in Wonne.
Ein weißer Teppich liegt jetzt aus.
Es strahlt und lacht die Sonne.
Wohin du siehst: Ganz puderweiß
geschmückt sind alle Felder,
der Bach rauscht lustig unterm Eis.
Nur finster stehn die Wälder.

  • 24 mal ein kurzes weihnachtliches oder winterliches Gedicht von 24 Autoren bis zum Heiligen Abend.