Passagen i. Stadt

Dort ist er gestorben, nichts als ein Kommentar zur Geschichte

Werner Söllner

Besoffen treiben im Rieth, im Brühl

Kopf hoch, Lichter am Hotel

Theater macht Nacht

steht da, macht dich Spiegeln im Glas

in den Gärten stille Gesichter blau

beleuchtet von 6,3 Zoll Persönlichkeit

lasst den Dichter doch laufen

Template mit Ortsnamen

spielt er den Lokalen

zeichnet auf, bezeichnet sich

kippt vor, kippt um, kippte zu Viel

lasst ihn liegen als Spur

lasst ihn liegen

er kannte es nicht anders

ABGESCHAUT – PAUL BOLDT (1885-1921) „WIR DICHTER“

Wie Einsamkeit das Ich im Auge dämmt.
Du ist nicht feil, und Du beginnt zu fehlen.
Geh durch die Menge, um Lächeln zu stehlen,
Verbrauche deine Küsse ungehemmt –:

Ein Schrei wärmt dir den Leib! Zu sehr allein.
Es gibt nur dies, unser Blut-Hoch und Ja,
Unsere Kunst, das Labsal anima!
Das Herz bewegt sich in das Wort herein.

Von den Stummheiten sollen wir aufbrechen!
Nicht nur anjahren in der Existenz.
Von Antlitzfrauen aufreizend umschwiegen

Werden wir jetzt, einmal und wenigstens,
Die Herzensröte an den Lippen kriegen.
Unseren Dialekt des Menschen sprechen.


|Erstmals erschienen in: Die Aktion.
Wochenschrift für Politik, Literatur, Kunst.
Jg. 4, 1914, Nr. 50/52, 24. Dezember, Sp. 939.

|Digitalisat: http://www.lyriktheorie.uni-wuppertal.de/lyriktheorie/scans/1914_boldt.pdf

Finale Nachbarschaft 2017 – mon ami Weimar – 08.12.2017 – Wassily Kandinsky als Dichter

 

Zum Jahresende stellen wir mit In guter Nachbarschaft noch einmal etwas richtig Großes auf die Beine! Meine wärmste Empfehlung – nicht nur als Veranstalter. Wir sehen uns in Weimar. Alle Infos hier.

über Wassily Kandinsky als Dichter — Novastation

Taverne

unter Leuchter und Rahmen
sitzt Dichter an Dichter
sitzt stickige Luft
zwischen den Leibern

und immer einer steht
und spricht Vers auf Vers
spricht hitzige Luft
hinter die Stirn

und dann im Klatschen
wird einer rot
wird einer ruhig
sagt einer tschüss

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Hier ist ein wenig Wehmut dabei. Viel Dankbarkeit, viel Freude auf Neues. Es war ein guter Abend gestern in Alberts Taverne. Ein Abend so ganz nach meinem Geschmack. Ein Abend auch mit viel Sekt in meinem Kopf und einem glücklichen Taxifahrer. Lieber Moritz, noch einmal ein leises: »Ich danke dir.«

Inspiration

Wie immer werktags gegen 18.00 Uhr ist der Regionalexpress zwischen Jena und Erfurt gut gefüllt. Fahrradkohorten und eine Dänische Dogge tragen ihr Übriges bei zur Verschärfung der Situation. In Weimar drängelt sich ein junger Mann durch die dichtgeschlossenen Reihen. Er ist schlank, trägt einen 3-Tage-Bart, Skinny Jeans. Insgesamt der Typ Soft-Hipster. Bei einer jungen Frau, die bereits die gesamte Fahrt über mit großer Bangigkeit ihren Rollkoffer fixiert hält, trifft er auf ein besonderes Hindernis. Er hebt seine Tasche an, lehnt den Oberkörper leicht nach vorne, schiebt behände das linke Bein an ihrem Leib vorbei. Was nun folgt, rechnete er nicht ein. Die junge Frau putzt sich die Nase. Dabei kommt es zu einer ruckartigen Lageveränderung ihres Oberkörpers. Vehementer noch ihr Aufschrei ob der ungewollten Nähe fremder Gliedmaßen.

– Sagen Sie, was fällt Ihnen ein?
– Ein Gedicht.
– Wie, ein Gedicht. Wollen Sie mich verarschen?
– Ich ging im Zug so für mich hin/ ihn zu verlassen war mein Sinn/doch ist im Weg die holde Maid/nicht nur ihr Koffer ist sehr breit.

Schneller als sich die Mimik der jungen Frau an das Gehörte anpassen kann, ist der Künstler breits auf der Treppe, steht auf dem sicheren Weimarer Boden. Barocker Vergeltung konnte er so entgehen.