Kurzgelesen – Dmitrij Kapitelman: »Eine Formalie in Kiew«

Wie schreibt man nach der Besetzung des Donbass und der Krim durch Russland 2014 und vor dem Angriffskrieg 2022 über die Ukraine und im Speziellen über Kiew?

Eine Möglichkeit bietet Serhij Zhadan (*1975), der in »Internat« einen jungen Lehrer ausschickt seinen Neffen aus der titelgebenden Bildungseinrichtung abzuholen. Dabei trotzt dieser den allgegenwärtigen Gefahren des Kriegsalltags in einem verrohten Land.

Eine ganz andere Option wählt Dmitrij Kapitelman (*1983) in »Eine Formalie in Kiew«. Doch was im ersten Moment so locker daher kommt, zeigt ein Land mit großen Fragen auf der Suche nach der eigenen Position zwischen Tradition und Neuaufbruch.

Der autobiographisch grundierte Roman schickt Dima nach Kiew um dort Dokumente für den Abschluss seiner Einbürgerung in Deutschland abzuholen. Wie sein Geburtsland steckt auch unser Protagonist plötzlich in einer Findungsphase, da er nicht weiß wie er sich in dieser ihm fremd gewordenen Ukraine bewegen soll. Und jetzt beginnt eine Achterbahnfahrt. Eben noch der König der Stadt, zerfällt alles mit einem Anruf. Dima wird auf eine Art und Weise herausgefordert, die viele Gewissheiten umwirft.

Dmitrij Kapitelman nimmt uns mit auf die spannende Reise einer Familie, die an Problemen wächst und doch immer in ihrer ganz eigenen Dynamik weiterfunktioniert. Die rasante Erzählung lebt von genauen Beobachtungen, Wortschöpfungen und einer feinen Ironie, die selten abgegriffen wirkt. Natürlich werden die Stereotypen gegeneinander ausgespielt, dank der ständigen Unsicherheit aber auch gekonnt aufgehoben, wenn man es gerade nicht erwartet.

Schaudort vergibt 10/10 Blickpunkte.

| Kapitelman, Dmitrij: Eine Formalie in Kiew. Dtv 2023. Roman, 176 Seiten.

Kurzgelesen – Daniela Danz: »Lange Fluchten«

Cons hatte einen Lebensentwurf. Alles war geplant. Frau, 2 Kinder, Hausbau – Alles ist da. Die Bundeswehr ist seine Berufung, bis er als Zeitsoldat bei einer Übung einen Aussetzer hat. Für einen Einsatz im Kosovo wird er nicht berücksichtigt und von nun an ändert sich alles.

Die Familie lebt auf der (ehemaligen) Baustelle in provisorischen Containern. Während seine Frau den Alltag der Familie bewältigt und die Söhne an ihm vorbei leben, geht Cons seiner Jagdleidenschaft nach. Kaum fähig einen konkreten Gedanken zu fassen lebt er in den Tag.

Daniela Danz nimmt den Leser mit auf eine Reise in das Innere eines Menschen, welches trostloser kaum sein kann. Zwischen Erinnerungen, alten Freundschaften und einem nicht mehr greifbaren Ideal scheitert Cons an sich selber.

Stilistisch holt die 1976 in Eisenach geborene Lyrikerin immer wieder das feine Besteck heraus. Die »Lange[n] Fluchten« sind ein kompaktes, rauschhaftes Werk, lassen den Leser etwas ratlos zurück und erzählen auf den wenigen Seiten so viel mehr über unsere Gegenwart als so manches Opus Magnum.

Schaudort vergibt 9/10 Blickpunkte.

| Danz, Daniela: Lange Fluchten. Wallstein 2016. Roman, 146 Seiten.

FRAGE FÜR EINEN FREUND #4 – mit Lukas Rietzschel und Mario Osterland — Novastation

FRAGE FÜR EINEN FREUND kehrt zurück. Am 24.6. um 19 Uhr begrüßt Moderator Mario Osterland den Schriftsteller Lukas Rietzschel im Werkstattgespräch. Sie sprechen über seinen Weg zur Literatur, den Debütroman „Mit der Faust in die Welt schlagen“ (Ullstein) und geben einen Ausblick auf den im Herbst erscheinenden Nachfolger „Raumfahrer“ (dtv). Außerdem wird der Bogen zu […]

FRAGE FÜR EINEN FREUND #4 – mit Lukas Rietzschel — Novastation

Meldet euch unter fragefuereinenfreund@gmx.de für das Zoommeeting an. „Frage für einen Freund“ ist kein steifes Interview, sondern ein Treffen von Literaturinteressierten mit Autoren. Mario Osterland führt als Moderator und Stichwortgeber durch den Abend, aber jeder darf und soll sich einbringen ins das Gespräch mit dem Gast.

Ich muss zugeben bisher noch kein Buch von Lukas Rietzschel gelesen zu haben und nutze die Gelegenheit um seine Literatur kennenzulernen. Eine kurze Rezension zu seinem Debut „Mit der Faust in die Welt schlagen“ folgt am kommenden Wochenende (19./20. Juni).

Durchgelesen: Michal Hvorecky – »Tod auf der Donau«

Die Mitarbeiter eines Schiffes sind eine eingeschworene Gemeinschaft. Jeder hat seine Aufgabe und trägt zum Funktionieren der Abläufe an Bord bei. Das ist zumindest die Theorie. Auf der »MS America« einem Donaukreuzfahrtschiff der Luxusklasse gilt für das Personal eine Grunddevise: In Namen der »American Danube Cruises« muss alles den Anschein der Exzellenz haben – mindestens!

Für die Passagiere, meist betuchte US-Amerikaner – weiße betuchte US-Amerikaner, eine abweichende Hautfarbe beeinträchtigt den Eindruck der Exzellenz – ist Martin Roy der erste Ansprechpartner. Als »Cruise Director« – vulgo Reiseleiter – ist sein oberstes Ziel die reibungslose Abwicklung der Reise für die anspruchsvolle Kundschaft. Wie viele seiner Kollegen hatte er eigentlich einen anderen Lebensentwurf. Als Magister der Italianistik reiht er sich ein in die Masse der Geisteswissenschaftler in einer ähnlichen Position. Eigentlich wollte er sich mit Übersetzungen aus dem Italienischen über Wasser halten, jetzt liest er den älteren Herrschaften alle Wünsche von den Lippen ab. Darunter finden sich Archetypen, die bei keiner Reisegruppe fehlen dürfen: Die Choleriker, denen Nichts gut genug ist. Die drallen Junggebliebenen, die gerne auch körperlich dem Reiseleiter, pardon Cruise Director, näher kommen wollen. Oder die Gehbehinderten, die durch europäische Katzenkopfpflastersteigungen getragen werden müssen.

Gleich zu Beginn der Reise bekommt Martin Besuch von Mona, einer Jugendliebe. Und obwohl das laut den Statuten des Unternehmens streng verboten ist, erlaubt der Kapitän (Auch er ein Stereotyp.) – Stichwort Gemeinschaft – das die junge Frau an Bord bleiben darf. Damit gerät die Reise, trotz aller Konzentration, für Martin zu einem Durcheinander – mindestens emotional. Da unser Reiseleiter ein Profi ist, erzählt er dennoch routiniert über die aktuellen Ziele der Kreuzfahrt und der Leser bekommt einen Überblick der Geschichte des Kulturraums rund um die Donau.

Hier liegt eine der großen Stärken des Romans. Immer wieder unterbrechen Episoden aus Martins Leben die Schilderungen des Schiffsalltags. Das fühlt sich nicht nur immer folgerichtig an, sondern sorgt wie die Vorträge Martins für ein flüssiges Lektüreerlebnis ohne Längen und bringt die benötigten Handlungsmotivationen des Protagonisten auf den Tisch. (Wir lernen warum Martin den großen europäischen Strom so liebt.) Stilistisch lebt »Tod auf der Donau« davon, dass der lockere Ton einer Vielzahl an Dialogen getragen wird, die sehr natürlich wirken. Selbst die aufgesetzte Freundlichkeit der Besatzung kommt überzeugend zur Geltung. Man darf sich glücklich schätzen, dass Michael Stavarič die Übersetzung übernommen hat. Wer Bücher beider Autoren kennt, erkennt die Verwandtschaft und findet im Buch eine Note Sarkasmus, die aus jeder Beobachtung hervorgeht, ohne zu aufdringlich zu sein.

Manch einer wird sich fragen, wo denn jetzt der Mord bleibt. Nun ja, der passiert – ist aber nie die Hauptsache, denn der Anschein der Exzellenz muss weiter glänzen.

Mit »Tod auf der Donau« hat Michal Hvorecky ein Stück Prosa vorgelegt, wie ich es von ihm nicht erwartet habe. Ganz anders als die dystopischen Szenarien von »City« oder »Troll« atmet der Roman soviel Gegenwärtigkeit, dass der Mikrokosmos der Donaukreuzfahrt nach den Gesetzmäßigkeiten des Pauschaltourismus selber wie eine Dystopie wirkt und dabei sind die Morde an Bord noch das kleinste Schrecknis.

Michal Hvorecky: Tod auf der Donau. Tropen, 2012. 272 Seiten.

Durchgelesen: Paul Auster – »Timbuktu«

Klar, dass Paul Auster (*1947) einer der großen US-Erzähler seiner Generation ist, lässt sich kaum als Geheimnis bezeichnen. Trotzdem bin ich eher spät auf den Auster-Zug gestiegen und mittlerweile gefällt es mir dort sehr gut. Ich stieg mit „Stadt aus Glas“ ein – dem ersten Teil der New York Trilogie von 1985. Was vordergründig wie ein Kriminalroman anmutet, kippt schnell in einen Versuchsaufbau. Die Handlung dient als Tableau um variantenreich das Themenfeld behauptete und tatsächliche Identität zu umkreisen. Mein nächster Auster wurde „Schlagschatten“ – der zweite Teil der Trilogie – was ich allerdings erst später herausfinden sollte. „Schlagschatten“ zeigt strukturell wie inhaltlich eine enge Verwandschaft zur „Stadt aus Glas“. Wieder dient eine Beschattung als Aufhänger für das Wälzen unterschiedlicher Identitäts- und Benennungsprobleme. Sprache ist bei Auster immer ein explizit hinterfragtes Instrument.

Aha, erwischt! Das ist also sein Ding. Da aber das Bedienen bestimmter Muster nicht unbedingt etwas Negatives sein muss – vielmehr den Wiedererkennungswert des Schreibers steigern kann – und die Lektüre der beiden Romane anregend wie kurzweilig war, sollte nun der Griff zu einem weiteren Buch meinen Verdacht verfestigen und Auster zu meinem Spezialisten für mehr oder weniger raffinierte Denkspiele stempeln.

Tja – das hat dann nicht so geklappt. Schnell wird klar, dass sich „Timbuktu“ von 1999 ganz anders anfühlt. Nach einem noch etwas unentschlossenen Beginn fokussiert sich Auster in diesem Buch auf die Perspektive des Hundes Mr. Bones um uns einen Ausschnitt Amerikas zu zeigen, wie er sich aus einer Position der Schwäche und Hilflosigkeit darstellt. Das Tier, anfänglich mit seinem langjährigen Herrchen Willy unterwegs, muss in schneller Folge eine Reihe von Schicksalsschlägen über sich ergeben lassen.

Ausgangspunkt ist eine Wanderung durch Baltimore, die William Gurevitch alias Willy G. Christmas mit seinem Hund unternimmt, um das neue Zuhause für diesen zu finden. Wobei Wanderung schon zu Viel ist, Gurevitch hat seine letzte Kraft zusammen genommen, denn sein Ende steht kurz bevor. Während Willy sein Leben verpfuschtes Leben als Poet in Flashbacks noch einmal durchlebt, erkennt Mr. Bones, das er von der Welt da draußen vor allem das weiß, was ihm sein Herrchen gelehrt hat. Dazu gehört auch die Vision von einem geweihten Ort Namens Timbuktu, einem Jenseits in dem das Herrchen auf seinen Begleiter warten wird. Auster lässt hier aber nicht nur einen treuen Vierbeiner aufmarschieren. Das Tier schwankt in seiner Wahrnehmung zwischen sympathischer Naivität und Momenten von nahezu erstaunlicher Reflexionstiefe. Dennoch bleibt der Grundkonflikt konstant bestehen: Die Hilflosigkeit des Tieres und seine Abhängigkeit von der Umwelt. Einziger Halt bleibt die Treue zu Willy und das Wissen um das gemeinsame Ziel Timbuktu.

In den Episoden des Wanderlebens unseres vierbeinigen Protagonisten führt Auster den Leser zu verschiedenartigen Abhängigkeiten mit denen der Hund nichts anfangen kann. Sie sind wider seiner Natur – er ist ein Streuner, wie Willy einer war. Am Ende bleibt auch „Timbuktu“ ein Versuch sich der Frage nach Identität und allem was dazu gehört zu nähern.

„Mooooaaah“ – Joachim Meyerhoffs Roman »Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke«, Kurzkritik

Mit 20 ist das Leben noch frisch – eigentlich. Unser Erzähler hat schon einen Bruder verloren und steckt gerade in einer Krise. So richtig weiß er nicht, wo es hingehen soll. Nach seinem Jahr in Amerika (Im ersten Teil des „Alle Toten fliegen hoch“- Erinnerungsprojektes.) ist er zurück in der Norddeutschen Provinz. Zum Glück gibt es da noch die Großeltern in München, mit Ihrer Villa direkt am Nymphenburger Park. Klingt mondän – ist es auch. Die Großmutter ist eine ehemalige Schauspielerin und formvollendete Diva, der Großvater ein emeritierter Philosophie-Professor und respekteinflössend. Und plötzlich wird diese Villa mit ihren Ritualen zu seinem Rückhalt. Der „Lieberling“, wie ihn die Großmutter nennt, landet an der Otto-Falckenberg-Schauspielschule. Dort stößt er mit seiner Art des „Schauspielerns“ oft an, kann mit seinem „Knautschgesicht“ viele Emotionen nicht nachbilden. Ein Ausgleich ist das Aikido-Training in der Schule, ein anderer sind die Großeltern. Diese Polstern sich Ihren Alltag mit festen Trinkritualen kuschelig weich und auch der Lieberling findet gefallen daran.

Wer die anderen Teile der Reihe bereits kennt, weiß wie eng bei Meyerhoff (*1967) Komik und Rührung aufeinander folgen. Eben noch werden die teils seltsamen, teils wohl nur für Eingeweihte verständlichen Rituale der Schauspielschule exerziert und schon wird das Kammerspiel durch eine Nachricht aus der Heimat zerlegt. Das Meyerhoff die meisten der Situationen so oder so ähnlich erlebt haben muss, zeigt sich immer wieder in den ausgedehnten Anekdoten, wie dem Kampf um einen richtigen Ton im Gesangsunterricht oder dem „Bau einer Körpermaschine“ mit den Kommilitonen. Da krampft und zischt so viel Selbstbeschau, dass es dem Leser mehr als leicht fällt sich daneben stehend zu wähnen und einen Blick auf dieses bemitleidenswerte Geschöpf zu haben. Aber so wie sich der „Lieberling“ durch die Jahre in der Schule kämpft, so löst sich auch immer wieder die Erzählung von einer bloßen Nabelschau und bindet das Umfeld ein. Ja, es sind, ausgenommen die Großeltern, mehrheitlich Statisten, die hier auftreten, aber gerade das zeigt die Meisterschaft des Buches, dass man ihm die teils sehr schablonenartig geratenen Nebenfiguren nicht übel nimmt. Stattdessen versteht man sie als die Wahrnehmungen unseres ziemlich auktorialen Erzählers – mehr gerät nicht in das Narrativ, als das selber erlebte unseres „Lieberlings“. Und selbst wo ein Hauch des Assoziativen auftaucht, bleibt die Rekonstruktion des Erfahrenen im Mittelpunkt.

Stilistisch wird hier nicht ungemein viel gewagt. Dem Buch ist eine gewisse Leichtigkeit eigen, dass immer wieder einmal gebrochen wird von lakonischen Kommentaren des Protagonisten, wenn er sich einmal mehr ausgesperrt fühlt aus der Welt des Theaters. Man darf Meyerhoff konstatieren auch im bereits dritten Band der autobiographischen Reihe sehr gut unterhalten und an einigen Stellen überraschen zu können. Viel darf man kaum erwarten von einem Roman, der die Erzähllust selten verliert, allerdings aufpassen muss, sich nicht selber in eine Musterhaftigkeit zu drängen, die in den ersten beiden Bänden von „Alle Toten fliegen hoch“ noch nicht zu spüren war. Klar ist, die Erwartungen an die Bände sind mittlerweile vorgezeichnet und klar ist auch, die Erwartungen sind gepaart mit Lust auf mehr.

Joachim Meyerhoff: »Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke« (=Alle Toten fliegen hoch, Teil 2), Kiepenheuer & Witsch, 348 Seiten, 10,99 Euro.

Auf nach Kingania! – Terézia Moras Roman „Alle Tage“, Kurzkritik

Nach einigen eher generischen Titeln brauchte meine Lektüre wieder etwas Schwung. Den habe ich bei Terézia Mora (*1971) gefunden. Das Buch „Alle Tage“ (2004 erschienen) lag bei mir einige Zeit auf dem Stapel „zu lesen“. Möglicherweise war ich etwas durch den Kommentar von Elke Heidenreich auf dem Cover (btb-Ausgabe) abgeschreckt: »Es ist eine Kostbarkeit dieses Buch, es ist ganz etwas Besonderes!«. Gut, Frau Heidenreich hatte schon irgendwie recht. Die Protagonisten des Romans sind durch die Bank weg schräge Figuren mit einem gewissen Hang zum Anarchismus.

Worum geht es eigentlich? Abel Nema, in einer ungenannten Stadt gestrandet, beherrscht zehn Sprachen und verdient sich damit seinen Lebensunterhalt eher schlecht als Recht. Doch unser Sprachengenie hat ein Problem ausgerechnet mit der Sprache. Zwar kann er reden und tut es auch, wenn es die Situation erfordert, aber die meiste Zeit schweigt er. Mal als Beobachter in seinem „Stammlokal“, der »Klapsmühle« – über die noch zu reden sein wird; mal als Ehegatte einer Frau mit einem Faible für besondere Männerfiguren. Nur mit seinem Stiefsohn Omar kann Abel ungehemmt Gespräche führen. So schleppt unser Protagonist immer eine Aura des Unberührbaren mit sich herum. Trotz einer Ehe und ein paar Kontakten bleibt er immer fremd in der Stadt.

Sein überschaubares soziales Umfeld schwankt zwischen einem akademischen Kreis und eher „abseitigen“ Figuren. Da ist Thanos, der Wirt der Klapsmühle, der für Abel so etwas wie ein Ratgeber und vielleicht auch eine Vaterfigur darstellt. In der Klapsmühle verbringt Abel einen großen Teil seiner Freizeit. Hier schweben halbnackte Engel an der Decke und nicht selten verlassen die Gäste das Lokal erst, wenn am Montag nach dem Wochenende der Kehraus gemacht wird. Da ist auf der anderen Seite Kinga, die Kämpferin. Bei ihr strandet Abel auf der Suche nach einer neuen Bleibe, nachdem er die Universität verlassen hat. Für sie ist er »das Kind«. Er lässt sich treiben als Teil von »Kingania«, einem „Salon“ für Trinker, unterhalten durch die Kämpferin und drei Musiker. Vor allem in Kinga, einer Suchenden, einer Ungezügelten, bringt er Roman so viel Lebenslust und Lebensfrust in einer einzigen Figur zusammen, dass sich dem Leser die Frage aufdrängt, was ein einzelner Mensch ertragen kann.

Bevor Terézia Mora in der (noch unvollständigen) Trilogie um den IT Spezialisten Darius Kopp die Abgründe der Psyche ins Visier nimmt, leuchtet „Alle Tage“ den Bereich der Gesellschaft aus, für den sich die Autorin interessiert. Mit einer Abfolge schneller Schnitte und ständigen Wechseln der Erzählperspektive legt der Roman ein sehr dynamisches Erzähltempo vor. Unterstützt durch einen parataktischen Satzbau und die sehr klare, direkte Sprache findet der Leser einen schnellen Zugang zu den Figuren. Durch die intelligente, wie lebensnahe Dialoggestaltung wird das Umfeld unseres Protagonisten mit seinen Problemen nicht nur nachfühlbar, sondern präsentiert sich darüber hinaus als Panorama der gesellschaftlichen Gegenwart. Der Fremde auf der Suche nach Anschluss wird zum zentralen Thema.

„Alle Tage“ überzeugt durch ein gut gezeichnetes Personal mit Ecken und Kanten und eine überaus dichte Atmosphäre. Der Roman will mehr als nur die Probleme seiner Hauptfigur nacherzählen und schafft das auch indem er Fremdheit zulässt und Abel Nema trotz seiner Besonderheiten nie vorführt, sondern ihm Raum gibt sich in der Gesellschaft zu bewähren oder eben zu scheitern.

dav