Nach einigen eher generischen Titeln brauchte meine Lektüre wieder etwas Schwung. Den habe ich bei Terézia Mora (*1971) gefunden. Das Buch „Alle Tage“ (2004 erschienen) lag bei mir einige Zeit auf dem Stapel „zu lesen“. Möglicherweise war ich etwas durch den Kommentar von Elke Heidenreich auf dem Cover (btb-Ausgabe) abgeschreckt: »Es ist eine Kostbarkeit dieses Buch, es ist ganz etwas Besonderes!«. Gut, Frau Heidenreich hatte schon irgendwie recht. Die Protagonisten des Romans sind durch die Bank weg schräge Figuren mit einem gewissen Hang zum Anarchismus.
Worum geht es eigentlich? Abel Nema, in einer ungenannten Stadt gestrandet, beherrscht zehn Sprachen und verdient sich damit seinen Lebensunterhalt eher schlecht als Recht. Doch unser Sprachengenie hat ein Problem ausgerechnet mit der Sprache. Zwar kann er reden und tut es auch, wenn es die Situation erfordert, aber die meiste Zeit schweigt er. Mal als Beobachter in seinem „Stammlokal“, der »Klapsmühle« – über die noch zu reden sein wird; mal als Ehegatte einer Frau mit einem Faible für besondere Männerfiguren. Nur mit seinem Stiefsohn Omar kann Abel ungehemmt Gespräche führen. So schleppt unser Protagonist immer eine Aura des Unberührbaren mit sich herum. Trotz einer Ehe und ein paar Kontakten bleibt er immer fremd in der Stadt.
Sein überschaubares soziales Umfeld schwankt zwischen einem akademischen Kreis und eher „abseitigen“ Figuren. Da ist Thanos, der Wirt der Klapsmühle, der für Abel so etwas wie ein Ratgeber und vielleicht auch eine Vaterfigur darstellt. In der Klapsmühle verbringt Abel einen großen Teil seiner Freizeit. Hier schweben halbnackte Engel an der Decke und nicht selten verlassen die Gäste das Lokal erst, wenn am Montag nach dem Wochenende der Kehraus gemacht wird. Da ist auf der anderen Seite Kinga, die Kämpferin. Bei ihr strandet Abel auf der Suche nach einer neuen Bleibe, nachdem er die Universität verlassen hat. Für sie ist er »das Kind«. Er lässt sich treiben als Teil von »Kingania«, einem „Salon“ für Trinker, unterhalten durch die Kämpferin und drei Musiker. Vor allem in Kinga, einer Suchenden, einer Ungezügelten, bringt er Roman so viel Lebenslust und Lebensfrust in einer einzigen Figur zusammen, dass sich dem Leser die Frage aufdrängt, was ein einzelner Mensch ertragen kann.
Bevor Terézia Mora in der (noch unvollständigen) Trilogie um den IT Spezialisten Darius Kopp die Abgründe der Psyche ins Visier nimmt, leuchtet „Alle Tage“ den Bereich der Gesellschaft aus, für den sich die Autorin interessiert. Mit einer Abfolge schneller Schnitte und ständigen Wechseln der Erzählperspektive legt der Roman ein sehr dynamisches Erzähltempo vor. Unterstützt durch einen parataktischen Satzbau und die sehr klare, direkte Sprache findet der Leser einen schnellen Zugang zu den Figuren. Durch die intelligente, wie lebensnahe Dialoggestaltung wird das Umfeld unseres Protagonisten mit seinen Problemen nicht nur nachfühlbar, sondern präsentiert sich darüber hinaus als Panorama der gesellschaftlichen Gegenwart. Der Fremde auf der Suche nach Anschluss wird zum zentralen Thema.
„Alle Tage“ überzeugt durch ein gut gezeichnetes Personal mit Ecken und Kanten und eine überaus dichte Atmosphäre. Der Roman will mehr als nur die Probleme seiner Hauptfigur nacherzählen und schafft das auch indem er Fremdheit zulässt und Abel Nema trotz seiner Besonderheiten nie vorführt, sondern ihm Raum gibt sich in der Gesellschaft zu bewähren oder eben zu scheitern.