Abgeschaut: Jakob vAn HoDDIS (1887-1942) – »AURORA«

Nach Hause stiefeln wir verstört und alt,
Die grelle, gelbe Nacht hat abgeblüht.
Wir sehn, wie über den Laternen, kalt
Und dunkelblau, der Himmel droht und glüht.

Nun winden sich die langen Straßen, schwer
Und fleckig, bald, im breiten Glanz der Tage.
Die kräftige Aurore bringt ihn her,
Mit dicken, rotgefrorenen Fingern, zage.


| aus: Niedermeyer, Max (Hg.): Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts. Dtv 1970.

| Digitalisat unter: Projekt Gutenberg


Rückständig

Die Nacht verlässt den Kopf
Durch die Augen versenkt du sie
In den Tiefen der Tasse
Die mehrhäutigen Worte
Ziehen sich zurück
Sammeln in der Amygdala
Den nächsten Sturm
Dir wird kein Haar gekrümmt
Nur ganz sachte das Rückgrat gestaucht

Nachtlos

Wir wollten unzählbar sein

Nur spürbar als Luft in den Lungen

Durch die Dunkelheit von Laterne zu Laterne ziehen

Halte ein, sagst du

Nachtlos sammeln wir

Unsere gegenseitigen Schwüre in die Tränensäcke

Abgeschaut – Georg Trakl: »Grodek«

Am Abend tönen die herbstlichen Wälder

Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen

Und blauen Seen, darüber die Sonne

Düstrer hinrollt; umfängt die Nacht

Sterbende Krieger, die wilde Klage

Ihrer zerbrochenen Münder.

Doch stille sammelt im Weidengrund

Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt

Das vergoßne Blut sich, mondne Kühle;

Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.

Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen

Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain,

Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter;

Und leise tönen im Rohr die dunkeln Flöten des Herbstes.

O stolzere Trauer! ihr ehernen Altäre

Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz,

Die ungebornen Enkel.

| Zitiert nach: Trakl, Georg: Das dichterische Werk. München 1972. S. 94-95.

| Digitalisat auf Zeno.org

Adventskalender Tür9* – Johann Gottfried von Herder (1744-1803) – »An die Bäume im Winter«

Gute Bäume, die ihr die starr entblätterten Arme
Reckt zum Himmel und fleht wieder den Frühling herab!
Ach, ihr müsst noch harren, ihr armen Söhne der Erde,
Manche stürmische Nacht, manchen erstarrenden Tag!
Aber dann kommt wieder die Sonne mit dem grünenden Frühling
Euch; nur kehret auch mir Frühling und Sonne zurück?
Harr geduldig, Herz, und bringt in die Wurzel den Saft dir!
Unvermutet vielleicht treibt ihn das Schicksal empor.

  • Täglich ein kleines winterliches oder weihnachtliches Gedicht bis zum 24.12.2021.

Adventskalender Tür5* – Hoffmann von Fallersleben (1798-1874) – »In der ChristnachT.«

Welch helle Töne hallen aus der Ferne!

Wie wird′s auf einmal mir so weh, so bang!

Zum Kirchgang laden freundlich alle Sterne

und ruft der Kerzenschein und Orgelklang.

  • Täglich ein kleines winterliches oder weihnachtliches Gedicht bis zum 24.12.2021.

Passagen i. Stadt

Dort ist er gestorben, nichts als ein Kommentar zur Geschichte

Werner Söllner

Besoffen treiben im Rieth, im Brühl

Kopf hoch, Lichter am Hotel

Theater macht Nacht

steht da, macht dich Spiegeln im Glas

in den Gärten stille Gesichter blau

beleuchtet von 6,3 Zoll Persönlichkeit

lasst den Dichter doch laufen

Template mit Ortsnamen

spielt er den Lokalen

zeichnet auf, bezeichnet sich

kippt vor, kippt um, kippte zu Viel

lasst ihn liegen als Spur

lasst ihn liegen

er kannte es nicht anders

Abgeschaut – Georg Trakl „Nachtlied“

Des Unbewegten Odem. Ein Tiergesicht

Erstarrt vor Bläue, ihrer Heiligkeit.

Gewaltig ist das Schweigen im Stein;

Die Maske eines nächtlichen Vogels. Sanfter Dreiklang

Verklingt in einem. Elai! dein Antlitz

Beugt sich sprachlos über bläuliche Wasser.

O! ihr stillen Spiegel der Wahrheit.

An des Einsamen elfenbeinerner Schläfe

Erscheint der Abglanz gefallener Engel.


| Georg Trakl: Das dichterische Werk. München 1972, S. 40.

| Digital auf Zeno.org: http://www.zeno.org/nid/2000580180X

Abgeschaut zum Jahreswechsel: Nikolaus Lenau (1802-1850)- »Bitte«

Weil auf mir, du dunkles Auge,
Übe deine ganze Macht,
Ernste, milde, träumerische,
Unergründlich süße Nacht!

Nimm mit deinem Zauberdunkel
Diese Welt von hinnen mir,
Dass du über meinem Leben
Einsam schwebest für und für.

Bedrohung

wieder sitzen sie
auf dem Erker nebenan
in Formation zu Zwein
Gu-Ru
sitzen in sich ändernder Zahl
sitzen

eine Taube – was ist das schon
ein ganzes Dach voll
und du bist verstört

was wollen sie so nah
was wollen sie bei dir
du verstehst sie nicht
Gu-Ru
das ist ein Reden
du hörst es
Gu-Ru
verstehst es nicht

was planen sie
planen sie deinen Tod
was soll ihr Blick
Gu-Ru
dieser gleichgültige Blick

Gu-Ru
bleib in Deckung
Gu-Ru vor dem Fenster
Gu-Ru die Furcht
Gu-Ru in der Nacht
beobachten dich die roten Augen

Das Profilbild ist von www. brieftaubenfoto.de entnommen.