Abgeschaut: Baudelaire, Charles (1821-1867) – »Einladung zur Reise«

Meine Schwester mein Kind!
Denk dir wie lind
Wär es dorthin zu entweichen!
Liebend nur sehn ·
Liebend vergehn
In Ländern die dir gleichen!
Der Sonnen feucht
Verhülltes geleucht
Die mir so rätselhaft scheinen
Wie selber du bist
Wie dein Auge voll List
Das glitzert mitten im weinen.

Dort wo alles friedlich lacht –
Lust und Heiterkeit und Pracht.

Die Möbel geziert
Durch die Jahre poliert
Ständen in deinem Zimmer
Und Blumen zart
Von seltenster Art
In Ambraduft und Flimmer.
Die decken weit
Die spiegel breit
In Ostens Prunkgemache
Sie redeten dir
Geheimnisvoll hier
Die süße Heimatsprache.

Dort wo alles friedlich lacht –
Lust und Heiterkeit und Pracht.

Sieh im Kanal
Der Schiffe zahl
Mit schweifenden gelüsten!
Sie kämen dir her
Aufs kleinste Begehr
Von noch so entlegenen Küsten.
Der Sonne Glut
Ersterbend ruht
Auf Fluss und Stadt und die ganze
Welt sich umspinnt
Mit Gold und jazint
Entschlummernd in tief-warmem Glanze.

Dort wo alles friedlich lacht –
Lust und Heiterkeit und Pracht.


Charles Baudelaire, als einer der großen Erneuerer der europäischen Lyrik, ist bekannt für seine Portraits der sich verändernden Städtelandschaft seiner gleichfalls geliebten und gehassten Heimat Paris (Vorrangig in den „Tableaux parisiens“.) In seiner 1857 erschienen Sammlung „Les fleurs du mal“ verbindet er die Erfahrung der sich rasant wandelnden Lebensumstände der Industrialisierung mit dem Blick des Romantikers für die Schönheit im Gegenwärtigen.

Das Gedicht „Einladung zur Reise“ ist seiner Geliebten Marie Daubrun gewidmet. Er führt der Schauspielerin in dem Zeilen das Ideal eines fernen Landes frei von den Umwälzungen in der Großstadt vor. Geradezu idyllisch mutet es an, wenn er das „Entweichen“ in die sonnenreiche Landschaft „wo alles friedlich lacht“ aufruft. Aber Baudelaire nicht der Autor der „Fleurs du mal“, wenn er nicht auch hier die Scheinhaftigkeit mittragen würde (Passend zum Titel des Zyklus „Trübsinn und Vergeisterung“).

Henri Duparc (1848-1933) hat das Gedicht – auch hier wieder einer Dame, seiner späteren Ehefrau Ellen Mac Swiney, gewidmet – 1870 als Gesang mit Klavierbegleitung vertont.

| aus: Baudelaire, Charles: Die Blumen des Bösen. Berlin 1901. S. 72-74. Übers. v. George, Stefan.

| Digitalisat unter: https://de.wikisource.org/wiki/Einladung_zur_Reise

| Zu den Liedern des Henri Duparc möchte ich folgenden Link empfehlen: https://kammermusikkammer.blogspot.com/2018/09/henri-duparc-1848-1933-lieder.html

Stromern

ausgeschickt zur Entdeckung

Abenteuer am Rinnstein

hinein in den Schilfgürtel

Von Schwänen beachtet

weiter in den Mittag ziehen

immer der See im Auge

Und da drüben sitzt ein Alter

Mit Suppe im Bart

erzählt er den Pappeln von Bette Davis Eyes

Der Wind greift den Schopf

Zieht dich uns Fispern der Bäume

dem Reiher hinterher

Gen Heimat geht’s

Zur Suppe, zum Bart.

ABGESCHAUT: Paul Verlaine (1844-1896) – »Sommer«

Der Sommer dehnt sich durch des Himmels weiße Glut,

ein Schattenkönig, der ein Urteil sieht vollstrecken.

Despotisch siehst du ihn die fahlen Arme recken,

der müde Landmann schläft und jede Arbeit ruht.

Die Lerche sang heute nicht, sie blieb bei ihrer Brut.

Nicht eine Wolke will ein wenig Blau verdecken,

und nicht ein Windhauch will ein leises Säuseln wecken.

Die Stille lastet schwer auf Wiese, Hain und Flut.

In dieser starren Ruh verstummen selbst die Grillen,

die Bäche fließen nur in schmalen, seichten Rillen,

ihr Kieselbett ist leer, und gelb das Ufermoos.

Im grünen Tümpel nur im Schatten jener Espen,

da schwirren glitzernd noch Libellen ruhelos,

und manchmal blitzen durch die Luft schwarzgelbe Wespen.


| aus: Zweig, Stefan (Hg.): Paul Verlaine. Gedichte. Eine Anthologie der besten Übertragungen. Berlin 1907. Übers. von Otto Hauser.

| Digitalisat unter: Projekt Gutenberg

Warum eigentlich nicht?

Warum sollten wir nicht am Leipziger Platz

die Weltwunder suchen

Augen geworfen nach Links, nach Rechts

und jede Ampelpause macht friedlich


Warum sollten wir nicht an der Werra

laufen bis zum Wehr

mit den singenden, springenden Fischen flussabwärts

die Schwanzflossen glänzend im Licht


Warum sollten wir nicht die Sonne

auf wie Wilhelmsburg tragen

über der Stadt die Freude verschütten

Burggräben füllen mit Glück


Warum sollten wir nicht mit Sisyhpos

den Stein auf den Inselberg rollen

bis er klein und bleich im Schnee liegt

und wir rodeln dem Glühwein entgegen


Warum eigentlich nicht?

Gleiten

Tram oberhalb des Staubs
klettere auf einen Halm
hier greift dich der Wind
erhebend die Luft unter den Flügeln
treibe bis zum Steig

hier standen die Menschen
schwer vom Denken
bis ihre Kalender vorbei waren
das Licht machte den Letzten aus

uns weist es den Weg

Wilde Zeiten

unter dem kreisenden Milan
tritt er in die Sonne
die Augen beschirmt
in seinem Vorgarten die Äpfel
daran vorbei tritt er zur Garage
und da hochglanzpoliert steht sie und wartet
fahren darf er nicht mehr
er schiebt seine Suhler Queen vor das Tor
da kneift es im Rücken

er zuckt zusammen
legt die Hand an den Lenker
sofortige Straffung in allen Zellen
Gänsehaut, Schwalbenhaut wie er es nennt
und der Schwung der Beine
schon sitzt er
die Schmerzen im Rücken als Sozius
nur den Helm lässt er weg
wie er so unter der Sonne steht
summt er schmissige Lieder

Short IV – Sonne

Erst durch Haar und Talg und Epidermis

Ist alles HORN irgendwie

Über den Gedanken

Zerren sie dir an der SCHWARTE herum

Und du so ein wenig Nervenzappeln

wenn sie dir Rupfen um Rupfen nehmen

mit Unterhaut und Sehnenhaube

löst du dich ab, löst du dich auf

es hilft auch kein Leibchen aus Speichelfäden

wenn der ABRISS in der Sonne glänzt

ohne Stirn, ohne Idee

Adventskalender Tür21* – Alexander Sergejewitsch Puschkin (1799-1837) – »Erst gestern war es«

Erst gestern war es, denkst du daran?
Es ging der Tag zur Neige.
Ein böser Schneesturm da begann
und brach die dürren Zweige.
Der Sturmwind blies die Sterne weg,
die Lichter, die wir lieben.
Vom Monde gar war nur ein Fleck,
ein gelber Schein geblieben.
Und jetzt? So schau doch nur hinaus:
Die Welt ertrinkt in Wonne.
Ein weißer Teppich liegt jetzt aus.
Es strahlt und lacht die Sonne.
Wohin du siehst: Ganz puderweiß
geschmückt sind alle Felder,
der Bach rauscht lustig unterm Eis.
Nur finster stehn die Wälder.

  • 24 mal ein kurzes weihnachtliches oder winterliches Gedicht von 24 Autoren bis zum Heiligen Abend.

Die Einsamkeit des Reiseleiters

In einem Bus sitzen die 41 Gesichter abgezählt

Würzburg mit Wein und Brücke

und du erzählst wie immer

im Halbschlaf die Zahlen und Namen

und wie immer einer in Reihe 8

der kann es dir besser erklären

er weiß es vom WDR

die Landpartie mit Landpomeranze

Reihe 8 dreht und wendet den Kopf

aber keine Aufmerksamkeit

dafür die rote Sonne von Barbados

und Würzburg im Regen

also wieder kein Trinkgeld heute

dafür drückt die Blase in Reihe 3

nach vier Minuten Autobahn

jetzt noch schnell den Schenkelklopfer

und die Damen stoßen mit Sekt an

schrilles Kichern über das Späßchen

dann ist endlich Ruhe

nur bei den Flippers

scheint immer noch diese Scheißsonne

Vorbereitung

Am Ortsrand rollt die Sonne noch Stroh
das langsame Gehen den Radweg entlang
macht uns das Wochenende weit
wie mit Siebenmeilenschritten geht es voran
frisch mit dem Wind um die Wette
und die großen Ideen im Kopf

zwischen den Dörfern machen wir Halt
blicken auf die Äcker
laden kurz auf

jetzt können sie kommen
sollen sie sich doch zeigen
und ihre Geschichten erzählen


wir sind bereit, wir hören zu
wir haben die Halme unter der Nase