Durchgelesen – Abbas Khider »Der Erinnerungsfälscher«.

Das Leben plant oft anders als der Mensch. Gerade hat man alles in halbwegs geordnete Bahnen gelenkt und einen erfolgreichen Ansatz gefunden, schon holt die Vergangenheit zum Gegenschlag aus.

Said Al-Wahid erhält auf dem Rückweg von seiner ersten Lesung in Mainz die Meldung, dass seine Mutter im Irak im Sterben liege. Kurzentschlossen macht er sich auf den Weg in ein Land, dass er vor Jahren verlassen hat um in Deutschland eine neue Existenz aufzubauen. Die Anreise als Rahmenhandlung nutzend, lässt Abbas Khider (*1973) seinen Protagonisten eine weitere Reise antreten. Für Said beginnt eine Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie. Von nun an streben die beiden Stränge auf einen gemeinsamen Punkt zu. Umso schneller sich Said seinem Ziel Bagdad nähert, desto schneller erreicht seine Erinnerung die Gegenwart. Oder eben auch nicht. Die Unzuverlässigkeit der Erinnerung übernimmt den Versuch der Selbstvergewisserung.

Das Thema der Flucht aus dem Heimatland wird bei Abbas Khider immer wieder neben die Probleme beim Ankommen im Zielland gestellt. Die Protagonisten wie Said sind überall entfremdet. Während im Zielland die Angst vor Amtlicher Post den Alltag bestimmt, waren es vor der Flucht allgegenwärtige Erfahrungen von Hunger, Krieg und Armut. Zur Schlüsselstelle des Romans wird der Augenblick der „Erfindung des Erinnerns“. Vom Zwang der Korrektheit des Historikers befreit, entdeckt Said die Möglichkeit seine Erfahrungen und Erlebnisse in einer neuen Art und Weise mitzuteilen. Das trifft Abbas Khiders Poetik in nuce – seine Romane sollen als autobiografisch verstanden werden, selbst dann, wenn sie gar nicht über eigene Erfahrungswerte berichten. Und so sind es weder die Schilderungen des täglichen Überlebenskampfes aus „Die Orangen des Präsidenten“ (2011), noch sind es die Probleme bei der Anpassung an die deutsche Gesellschaft und den deutschen Bürokratismus aus „Ohrfeige“ (2016), die über allem schweben, sondern immer die daraus resultierende Kritik an der „Zerstörung der Person“ durch die jeweiligen Zustände.

„Der Erinnerungsfälscher“ ist kein in sich geschlossener Roman. Die Erinnerung wird in Alltagsgeschichten und kurzen Episoden geschildert. Dabei stehen die jeweiligen Augenblicke für eine Stimmung oder eine Herausforderung im Leben von Said. Die Range reicht von traumatischen Erfahrungen wie der Hinrichtung des Vaters durch das Hussein Regime bis zu vordergründigem Alltagsrassismus in einer Berliner Kiezkneipe.

Stilistisch ist auch „Der Erinnerungsfälscher“ ein Roman ohne jegliches Pathos. Die Darstellung der traumatischen Szenen erfolgt bewusst unsentimental. Weniger Raum als in den vorherigen Büchern erhält der für Abbas Khider so typische bissige Humor. Dennoch muss niemand Angst haben hier ein Werk geringerer stilistischer Qualität vor sich zu haben. Einige Sätze wirken wie gestanzt, fast aphoristisch. An dieser Stelle nutzt Khider, dass Said auch als Literat die Beschäftigung mit seiner traumatischen Vergangenheit sucht.

„Der Erinnerungsfälscher“ ist sehr schmal, intensiv und ein typischer Khider.

Ja, die Themen wiederholen sich. Ja, der teils dokumentarische Stil wiederholt sich. Und ja: Genau das brauchen wir – die permanente Konfrontation mit einem gesamtgesellschaftlichen Problemfeld, welches wie kaum ein anderes von unreflektierten Vorurteilen dominiert wird.

Beweis. Empirisch.

Die Kassen bei Netto sind unbesetzt. Ein kleines Mädchen, Bauernzopf, rosa Brille, zupft an der Jacke ihrer Mutter. Sie stehen auf Höhe des Zeitschriftenregals.

– Mama, bekomme ich eine Pferdezeitung?

– Mh, was ist das wieder. Magst du jetzt Pferde?

Die Mutter erntet als Antwort ein Kopfschütteln.

– Ich will Justin zeigen, dass er doch ein Pferdegebiss hat.

– Oh, ja. Da kaufen wir eine. Sein Gesicht will ich sehen.

Sie lachen gemeinsam und kaufen eine Wendy.

Prinz

Der Mädchen zieht sich eine Strähne des rötlichen Haares ins Gesicht und pustet dagegen: „Mama. Warum sagen immer alle ein Traumprinz kommt auf einem Schimmel?“ Die Mutter kontrolliert den Einkaufszettel, nickt; beiläufig ohne ihre Tochter anzuschauen:  „Weil das edel ist.“  Die Tochter lässt ihre Haare wirr über der Stirn hängen, schüttelt den Kopf energisch: „Aber Schimmel macht doch krank und dann hat der Prinz husten. Ein Prinz mit Husten ist doof.“ Die Mutter prüft die Festigkeit der Mangos.